Baukunst-Der atmende Raum – Warum ein Algenbaum in Bonn mehr ist als grüne Symbolpolitik
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Der atmende Raum – Warum ein Algenbaum in Bonn mehr ist als grüne Symbolpolitik

26.07.2025
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Claudia Grimm

Ein synthetischer Baum als Symbol der ökologischen Transformation

Die Besucherinnen und Besucher der Bundeskunsthalle Bonn bleiben unweigerlich stehen. Im Foyer des Gustav-Peichl-Baus reckt sich eine monumentale Installation gen Decke – TreeONE, ein synthetischer Baum, der die Grenzen zwischen Natur, Technologie und Kunst aufhebt. Geschaffen vom Londoner Designstudio EcoLogicStudio, markiert diese lebende Skulptur einen Wendepunkt im architektonischen Denken des 21. Jahrhunderts.

Mikroalgen als Baumeister der Zukunft

TreeONE ist mehr als eine ästhetische Intervention. Die Installation von Claudia Pasquero und Marco Poletto funktioniert als biologischer Reaktor, der aktiv CO₂ aus der Atmosphäre filtert und in Biomaterial umwandelt. Mikroalgen – jene mikroskopisch kleinen Organismen, die bereits vor 3,5 Milliarden Jahren die Erdatmosphäre mit Sauerstoff anreicherten – werden hier zu Protagonisten einer neuen Baukultur.

Die technische Raffinesse liegt im Detail: Ein ausgeklügeltes System aus Bioreaktoren, transparenten Röhren und Nährstofflösungen ermöglicht es den Algen, unter kontrollierten Bedingungen zu wachsen. Das entstehende Biomaterial kann später als Grundstoff für biobasierte Baustoffe dienen – ein perfekter Kreislauf, der die Prinzipien der Circular Economy in die Architektur überträgt.

Bonns Vorreiterrolle in der nachhaltigen Transformation

Die Präsentation von TreeONE ist kein Zufall. Als UN-Stadt und Sitz von 27 internationalen Organisationen hat sich Bonn der Agenda 2030 verschrieben. Die Bundeskunsthalle selbst verfolgt das ambitionierte Ziel, bis 2035 klimaneutral zu werden. TreeONE fungiert dabei als lebendiges Manifest dieser Transformation.

Die Installation ist eingebettet in die Ausstellung “WEtransFORM – Zur Zukunft des Bauens”, die noch bis Januar 2026 zu sehen ist. Als Teil eines internationalen Netzwerkprojekts in Kooperation mit dem New European Bauhaus der EU-Kommission zeigt die Schau 80 wegweisende Projekte aus ganz Europa. Von Anna Heringers Stampflehmbauten über MVRDV’s Konzepte für den Umgang mit steigenden Meeresspiegeln bis zu Avanto Architects’ innovativen Holzkonstruktionen – die Bandbreite nachhaltiger Architekturansätze ist beeindruckend.

Regionale Verankerung, globale Ausstrahlung

TreeONE verkörpert exemplarisch die Stärken des Bonner Nachhaltigkeitsclusters. Die Region Bonn/Rhein-Sieg hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Hotspot für grüne Architektur entwickelt. Lokale Büros wie greenUP Architektur & Bauberatung oder die Keystone Design Planungsgesellschaft setzen bereits heute Maßstäbe im klimaneutralen Bauen. Das HZI Bonn begleitet zahlreiche Projekte auf dem Weg zur DGNB-Zertifizierung.

Diese regionale Expertise trifft in der Bundeskunsthalle auf internationale Innovationen. TreeONE demonstriert, wie biologische Systeme in urbane Strukturen integriert werden können – ein Ansatz, der angesichts der Klimakrise und des dramatischen Biodiversitätsverlusts dringlicher denn je erscheint.

Zwischen Utopie und Umsetzbarkeit

Kritische Stimmen mögen einwenden, dass Installationen wie TreeONE eher symbolischen Charakter haben. Tatsächlich liegt die jährliche CO₂-Absorptionskapazität der Installation im Bereich weniger Tonnen – verglichen mit dem CO₂-Fußabdruck des Bausektors ein Tropfen auf den heißen Stein. Doch diese Betrachtung greift zu kurz.

TreeONE funktioniert als Prototyp und Denkanstoß. Die Installation zeigt, dass Architektur nicht länger als statisches, totes Material gedacht werden muss. Gebäude der Zukunft könnten zu lebenden Organismen werden, die aktiv zur Verbesserung des Stadtklimas beitragen. Bereits heute experimentieren Architekturbüros weltweit mit algenbeschichteten Fassaden, die nicht nur CO₂ binden, sondern auch als natürliche Klimaanlagen fungieren.

Die ästhetische Dimension der Nachhaltigkeit

Ein oft vernachlässigter Aspekt nachhaltiger Architektur ist ihre sinnliche Qualität. TreeONE beweist, dass ökologisches Bauen nicht mit ästhetischem Verzicht einhergehen muss. Die organischen Formen, das Spiel von Licht und Schatten in den mit Algen gefüllten Röhren, die subtile Bewegung der Mikroorganismen – all dies schafft eine fast meditative Atmosphäre.

Diese Verschmelzung von Schönheit, Funktionalität und ökologischer Verantwortung entspricht exakt den Prinzipien des New European Bauhaus, das Umweltschutz, Gemeinschaft und Ästhetik als gleichwertige Ziele definiert. TreeONE wird so zum Sinnbild einer neuen Architektursprache, die technische Innovation mit poetischer Kraft verbindet.

Impulse für die Bauwirtschaft

Die nordrhein-westfälische Landesbauordnung sieht bereits heute vor, dass öffentliche Gebäude Vorbildcharakter in Sachen Nachhaltigkeit haben sollen. Projekte wie TreeONE könnten diese Vorgaben revolutionieren. Statt Nachhaltigkeit als zusätzliche Bürde zu begreifen, zeigt die Installation Wege auf, wie biologische Prozesse integral in Planungsprozesse einbezogen werden können.

Für die regionale Bauwirtschaft ergeben sich daraus neue Geschäftsfelder. Die Kultivierung von Mikroalgen, die Entwicklung biobasierter Baustoffe, die Integration lebender Systeme in Gebäudehüllen – all dies erfordert interdisziplinäre Kompetenzen und schafft Arbeitsplätze an der Schnittstelle von Biotechnologie, Architektur und Ingenieurwesen.

Ein Blick in die Zukunft

TreeONE ist mehr als eine temporäre Installation. Das Projekt markiert einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Architektur und Stadtentwicklung. In einer Zeit, in der der Bausektor für etwa 40 Prozent der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich ist, weist TreeONE den Weg in eine regenerative Zukunft.

Die Bundeskunsthalle positioniert sich mit dieser mutigen Präsentation als Diskursplattform für die drängenden Fragen unserer Zeit. Hier wird nicht nur über Nachhaltigkeit gesprochen – sie wird erlebbar gemacht. TreeONE lädt dazu ein, unsere gebaute Umwelt neu zu denken: nicht als Gegensatz zur Natur, sondern als Teil eines größeren, lebendigen Systems.

Für Bonn und die Region bedeutet dies eine Chance, sich als Innovationsstandort für nachhaltige Architektur zu profilieren. Die Verbindung von internationalem Know-how, lokaler Expertise und politischem Willen schafft ideale Voraussetzungen, um Modellprojekte zu entwickeln, die weit über die Stadtgrenzen hinaus Strahlkraft entfalten.

TreeONE steht symbolisch für diese Ambitionen – ein synthetischer Baum, der natürliche Prozesse nutzt, um eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. In der Bundeskunsthalle wird so sichtbar, was nachhaltige Architektur im 21. Jahrhundert bedeuten kann: die intelligente Verschränkung von Natur und Technik im Dienste des Gemeinwohls.