
Italienische Kollegen im Zwielicht
Nach vier Jahrzehnten in diesem Beruf dachte ich, mich könne nichts mehr überraschen. Doch die Mailänder Korruptionsaffäre, in die 74 Personen verstrickt sind – darunter Stararchitekt Stefano Boeri und Bürgermeister Beppe Sala –, lässt selbst einen abgebrühten Veteranen wie mich erschaudern. Nicht wegen der Korruption an sich. Die gibt es, seit Menschen bauen. Sondern wegen der Dreistigkeit, mit der hier ein ganzes System pervertiert wurde.
Architektur als Selbstbedienungsladen
Was in Mailand passiert ist, kennt jeder, der länger im Geschäft ist: Eine städtische Landschaftskommission, die eigentlich das öffentliche Interesse schützen sollte, mutierte zum exklusiven Club der Baumafia. Der Architekt Giuseppe Marinoni, Vorsitzender dieser Kommission, entwickelte seit 2021 ein „Schatten-Raumordnungskonzept” – ein schöner Euphemismus für systematische Vetternwirtschaft.
Die Mechanismen sind so alt wie banal: Beratungsverträge als Schmiergeld getarnt, fast vier Millionen Euro sollen geflossen sein. Informationen über Projekte wurden ausgetauscht, bevor sie überhaupt ausgeschrieben waren. Aus einer dreistöckigen Villa wurde per „Restrukturierung” ein Hochhaus – ein architektonischer Taschenspielertrick, der selbst Houdini neidisch gemacht hätte.
Die Hybris der Stararchitekten
Besonders bitter: Mit Stefano Boeri steht ein Kollege unter Verdacht, dessen „Bosco Verticale” ich einst als visionäres Projekt gefeiert habe. Boeri soll ungebührlichen Druck auf den Bürgermeister ausgeübt haben. Ein Stararchitekt, der glaubt, über dem Gesetz zu stehen – leider kein Einzelfall in unserer Branche.
Die Verteidigungslinie ist vorhersehbar: Man habe nur das „Modell Mailand” vorangetrieben, öffentlich-private Partnerschaften gefördert, die Stadt effizienter gemacht. Ex-Staatsanwalt Antonio Di Pietro warnt gar vor „Schleppnetzfischerei” der Justiz. Als ob Effizienz ein Freibrief für Korruption wäre!
Systemversagen mit Ansage
Das eigentlich Erschreckende ist die Normalität des Abnormalen. Stadtrat Giancarlo Tancredi sagte noch im Januar der F.A.Z.: „Es gibt keine Korruption, keinen Austausch von Geld.” Eine Aussage, die sich nun als groteske Fehleinschätzung entpuppt. Oder war es bewusste Täuschung?
Giovanni Oggioni, ein für die Stadtverwaltung arbeitender Architekt, verschaffte seiner Tochter – ebenfalls Architektin – lukrative Aufträge. Sein Schwiegersohn wurde bei einem Bauverband untergebracht. Familienbande als Geschäftsmodell – in Italien mag das Tradition haben, ethisch vertretbar macht es das nicht.
Die Perversion des Berufsethos
Als Architektinnen und Architekten tragen wir Verantwortung für die gebaute Umwelt, für lebenswerte Städte, für das Gemeinwohl. Diese Verantwortung haben die Mailänder Kollegen mit Füßen getreten. Sie haben aus der noblen Aufgabe der Stadtgestaltung ein schmutziges Geschäft gemacht.
Dabei geht es nicht nur um Geld. Es geht um Vertrauen. Wenn Bürgerinnen und Bürger erleben, dass Bauprojekte nicht nach Qualität und Gemeinwohl, sondern nach Beziehungen und Bestechung genehmigt werden, erodiert das Fundament unserer Demokratie.
Der deutsche Blick
Aus deutscher Perspektive mag man versucht sein, mit dem Finger auf die italienischen Kollegen zu zeigen. Vorsicht! Auch hierzulande sind die Grenzen zwischen legitimer Lobbyarbeit und unlauterem Einfluss oft fließend. Wie oft sitzen Architekturbüros und Bauunternehmen in Jurys, die über Projekte entscheiden, an denen sie selbst verdienen könnten? Wie oft werden Bebauungspläne so gestrickt, dass nur bestimmte Investoren profitieren?
Zeit für eine Ethik-Offensive
Die Mailänder Affäre muss ein Weckruf sein. Wir brauchen:
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Transparente Vergabeverfahren ohne Hintertürchen
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Unabhängige Kontrollgremien ohne Interessenkonflikte
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Klare Compliance-Regeln für Architekturbüros
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Eine Rückbesinnung auf unsere berufsethischen Grundsätze
Nach 40 Jahren im Beruf weiß ich: Integrität ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit. Wer glaubt, mit Kungeleien schneller zum Ziel zu kommen, zerstört nicht nur seinen Ruf, sondern beschädigt eine ganze Profession.
Hoffnung trotz allem
Staatsanwalt Marcello Viola beklagt eine „unkontrollierte Expansion der Bauwirtschaft” in Mailand. Das mag juristisch unsauber formuliert sein, trifft aber den Kern: Wenn Wachstum wichtiger wird als Qualität, wenn Profit über Ethik steht, verlieren alle.
Die gute Nachricht: Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die schlechte: Es brauchte drei Jahre Ermittlungen, Telefonüberwachungen und Hausdurchsuchungen, um das System aufzudecken. Wie viele ähnliche Netzwerke existieren noch im Verborgenen?
Für die nächste Architektengeneration habe ich einen Rat: Lasst euch nicht korrumpieren. Kein Projekt, kein Auftrag, kein noch so lukrativer Deal ist es wert, seine Integrität zu opfern. Denn am Ende des Tages müssen wir alle in den Spiegel schauen können. Und in den Städten leben, die wir geschaffen haben.

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